Die Prinzipien der rituellen Rhythmik der altindischen Kunstmusik anhand des tāla-Abschnitts des Dattilam

01.01.2000

Thomas Kintaert

  • Betreuung: Anand Amaladass / Utz Podzeit

Die vorliegende Diplomarbeit präsentiert das Rhythmussystem (tāla) der altindischen Kunstmusik namens gāndharva anhand der ausführlichen Darstellung im Dattilam des Dattila.
Das gāndharva war eine aus Gesang und Instrumentalmusik bestehende Musikgattung, deren Ursprung in den ersten vorchristlichen Jahrhunderten anzusetzen ist. Sie ist vor allem als jene Musik überliefert, die während des rituellen Vorspiels (pūrvaraṅga) des altindischen Schauspiels zum Einsatz kam. Während uns das gāndharva als Musik dieses pūrvaraṅga in erster Linie dank den Beschreibungen in Bharatas Nāṭyaśāstra bekannt ist (adhyāyas 28 bis 31), so wird diese Musik im Dattilam des Dattila ohne jeglichen Bezug zum Drama dargestellt. Das Dattilam ist der einzige erhaltene Text, der ausschließlich dem gāndharva gewidmet ist und stellt die einzige erhaltene parallele Quelle neben den gāndharva-Beschreibungen des Nāṭyaśāstra dar. Es stammt, wie letzteres, vermutlich vom Beginn unserer Zeitrechnung. Da das gāndharva als Ursprung der heutigen klassischen Musiktraditionen Indiens gilt, ist das Studium seiner Formen auch imstande, zahlreiche Aspekte der späteren indischen Musikgeschichte zu beleuchten.

Die Diplomarbeit gliedert sich in 5 Teile. Teil A (p. 1-35) versucht anhand einer allgemeinen Einführung in das gāndharva (A.1.), in das Dattilam und seinen Autor (A.2.), sowie in den rhythmischen Aspekt indischer Kunstmusik, d.h. tāla (A.3.), eine Orientierungshilfe für die nachfolgenden Ausführungen zu schaffen. Quellen, Geschichte, Kontext, Instrumentarium, usw. des gāndharva, sowie die ihm zugeschriebene transzendentale Wirkung, werden erläutert. Ebenso wird die Stellung des Dattilam innerhalb der indischen Musikliteratur näher beleuchtet.
Der anschließende Teil B (p. 37-60) liefert mit dem transliterierten Sanskrit-Text des tāla-Abschnitts des Dattilam samt deutscher Übersetzung die Grundlage für den ausführlichen Kommentar in Teil C. Das tāla-System des gāndharva umfasst drei (im Dattilam) bis fünf (im Nāṭyaśāstra) rhythmische Hauptmuster (gāndharvatālas), die mit ihren cheironomischen, metrischen und zahlreichen weiteren Bestandteilen ihrerseits das rhythmische Fundament der Lieder des gāndharva, d.h. der gītakas, bilden. Letztere sind primär hinsichtlich ihrer rhythmischen Gestalt festgehalten worden, weshalb ihre Strukturen in den jeweiligen tāla-Abschnitten der gāndharvaśāstra überliefert sind.
In Teil C der vorliegenden Studie (p. 61-118) wird jeder einzelne Vers des übersetzten Texts wieder aufgegriffen und seine technische Terminologie erläutert. Die rhythmischen Strukturen der einzelnen gītakas und ihrer Bausteine werden rekonstruiert und anhand von 16 Figuren veranschaulicht.
Nachdem in den ersten drei Abschnitten das tāla-System des gāndharva in seiner gesamten Komplexität dargestellt wurde, versucht Teil D (p. 119-152) diese Rhythmik, vor allem hinsichtlich der ihr zugeschriebenen transzendentalen Wirkung, zu deuten. Diesbezüglich ist vor allem die Feststellung von Bedeutung, dass zwei der drei im Dattilam beschriebenen, mit bestimmten Handgesten ausgeführten gāndharvatālas ihrem Wesen nach Polymetren sind, d.h. kleine, ganze Zahlenverhältnisse zum Ausdruck bringen. Es handelt sich dabei um ein 2:3- und ein 3:4-Polymetrum. Diese Tatsache ist umso bedeutsamer, als die melodische Entsprechung dieser Polymetren, d.h. die musikalisch in hohem Grade konsonanten Intervalle der reinen Quinte (2:3) und der reinen Quarte (3:4), im gāndharva in Gestalt der beiden saṃvādas eine primäre Rolle einnehmen. Obwohl diese Entsprechung der genannten Polymetren und musikalischen Intervalle in den erhaltenen Lehrwerken nicht explizit genannt wird, muss sie denen, die den gāndharva kodifizierten, bewusst gewesen sein. Es spiegelt sich dies auch darin wider, dass Rhythmik und Melodik in einer solchen Art und Weise koordiniert werden, dass sich die jeweiligen psycho-akustischen Wirkungen gegenseitig intensivieren. Dies wird anhand von Beispielen, sowohl aus dem gāndharva-Repertoire als auch aus späteren Musiktraditionen, die sich aus dem gāndharva entwickelt haben, aufgezeigt. Mit Hilfe dieser neuen Erkenntnisse werden nun außerdem eine Anzahl spezifischer rhythmischer Strukturen, die sich in den Analysen in Teil C als problematisch erwiesen hatten, neu interpretiert.
Teil E enthält schließlich als Anhang den von Sāmbaśiva Śāstrī herausgegebenen Originaltext des tāla-Abschnitts des Dattilam, der die Grundlage für den in Teil B transliterierten und übersetzten Text bildet. Eine Bibliographie mit einem Abkürzungsverzeichnis ergänzen die Arbeit.