Die Selbstbezeichnung „Dalit“ ist zu einem identitätspolitischen Schlüsselbegriff der politischen und kulturellen Mobilisierung der damit bezeichneten Bevölkerungsgruppe geworden. Dalit-Emanzipation wurde von ihren Protagonisten seit dem 19. Jahrhundert stets nicht nur pragmatisch als ein Kampf um soziale Rechte, sondern als eine Angelegenheit der Rückgewinnung kultureller Selbstdeutung betrachtet. Auf diesem Hintergrund entstand in den 1960er und 1970er Jahren eine moderne Dalit-Literaturbewegung, zunächst in Marathi. Insbesondere Eleanore Zelliot, Arjun Dangle, Mulk Raj Anand und Gail Omvedt haben diese Literatur für den westlichen Leser erschlossen. Seit den 1990er Jahren ist Dalit-Literatur auch in Hindi zu einem dynamischen Genre geworden, mit teilweise anderen Akzenten als in der Welt der Dalit-Literatur in Marathi. Seitdem sind vor allem zahlreiche Kurzgeschichten und Gedichte erschienen, aber auch eine Reihe von Romanen, didaktische Dramen und Autobiographien, die von manchen als das zentrale Genre der Bewegung angesehen werden. Es geht der Literaturproduktion stets auch zum einen um die Wiedergewinnung von Geschichte, zum andern aber auch um die Konstruktion moderner Identität in nationalstaatlich geprägten Modernitätsdiskursen.
Unklar ist, inwieweit sich diese Literaturproduktion an die Dalit-Leserschaft richtet oder ob sie im Kern die Gesamtgesellschaft als Adressaten hat. Zentraler Bezugspunkt der Literaturproduktion ist der Begriff der authentischen Erfahrung (Anubhūti), der vom solidarischen Mitgefühl (Sahānubhūti) von Nicht-Dalits kategorisch unterschieden wird.
Heinz Werner Wessler ist zur Zeit als Gastprofessor für Indologie an der Universität Uppsala (Schweden) tätig. Er ist Privatdozent im Institut für Orient- und Asienwissenschaften der Universität Bonn (Abteilung für Indologie) und hat seine Doktorarbeit zu "Zeit und Geschichte im Viṣṇupurāṇa" geschrieben.