- Betreuung: Karin Preisendanz / Franz M. Wimmer
In dieser Arbeit werden zwei Textauszüge aus einem in Sanskrit verfassten Werk namens Satyaśāsanaparīkṣā untersucht. Der Autor Vidyānandin, dessen Wirkenszeit in das 9. oder 10. Jh. unserer Zeitrechnung fällt, war ein Jaina, näherhin ein Digambara, d.h. Angehöriger einer der beiden großen Konfessionen des Jinismus, der seinerseits zusammen mit Hinduismus und Buddhismus zu den drei großen in Südasien entstandenen religiösen Traditionen zählt. Vidyānandin gehört einer Gruppe jinistischer Autoren an, die den Vorzug der jinistischen Lehre darin sahen, dass diese bei der Darstellung zentraler Inhalte des indischen Denkens eine Gesamtschau verschiedener möglicher Perspektiven auf die untersuchten Sachverhalte bietet, die Vertreter anderer Lehren hingegen jeweils nur einzelne Perspektiven unter Ausschluss der anderen berücksichtigten und damit zu irrigen Auffassungen gelangten. Dieser Anspruch auf die Überlegenheit der jinistischen gegenüber anderen Lehren wird in den philosophischen Werken der Jainas einerseits durch systematische Erörterungen zu ihrem perspektivistischen Erkenntnismodell, andererseits durch die rationale Dekonstruktion gegnerischer Lehrinhalte abzusichern gesucht. Das letztere Verfahren kommt in der Satyaśāsanaparīkṣā zur Anwendung. Die Schwerpunkte der vorliegenden Arbeit liegen in der Textkonstitution, der Übersetzung und der Klärung des philosophiegeschichtlichen Kontexts der im zweiten Auszug aus der Satyaśāsanaparīkṣā erfolgenden Auseinandersetzung Vidyānandins mit dem Vaiśeṣika. Vidyānandin übt in diesem Zusammenhang eine sehr scharfe Kritik am Weltbild dieser ihrer religiösen Ausrichtung nach dem Hinduismus zuzurechnenden naturphilosophischen Tradition, insbesondere an dem für sie zentralen Konzept der Inhärenz. Dieser kritische Umgang mit dem Vaiśeṣika wird in der ideengeschichtlichen Studie der vorliegenden Arbeit als Fallbeispiel für die Bezugnahme der Jainas auf konkurrierende Weltentwürfe und im Kontext ihres perspektivistischen Erkenntnismodells untersucht. In diesem Teil der Arbeit wird anhand der Abgrenzung des für den Jinismus spezifischen Perspektivismus von anderen pluralistischen Erkenntnismodellen die mit dem Haupttitel der vorliegenden Arbeit, „Schluss mit ungültigen Perspektiven!“, angesprochene These entwickelt: Der Ausschluss von Perspektiven führt nicht notwendigerweise zu unvollständigen und somit irrigen Auffassungen, im Gegenteil – der Ausschluss bestimmter Perspektiven, nämlich jener, die mittels der Methode der Falsifikation als irrtümliche identifiziert werden können, scheint eine unerlässliche Bedingung für die rationale Begründung eines perspektivistischen Erkenntnismodells zu sein.