Philosophie und Medizin im frühklassischen Indien II

01.08.2007 - 30.11.2010

Leitung: Karin Preisendanz

FWF, P19866-G15

Mitarbeiter:

  • Philipp Maas
  • Anne MacDonald
  • Cristina Pecchia

Die Carakasaṃhitā ist eine der wichtigsten und ältesten Abhandlungen der klassischen indischen Medizin (Āyurveda), die auf die ersten Jahrhunderte u.Z. zurückgeht. Ihr drittes Buch, das Vimānasthāna, ist eine reiche Quelle für unsere Kenntnis von grundlegenden Vorstellungen der frühklassischen indischen Medizin, insofern dort Themen wie das Wesen und die Klassifikation von Krankheiten zusammen mit ihrem Verhältnis zu den Geschmacksarten und den humores behandelt werden, die Arten und Verbindungen von Heilsubstanzen, die in der Therapie eingesetzten Nahrungsmittel, Speiseregeln und die Grundkonstitutionen von Patienten, die eine wichtige Rolle in der Therapie spielen. Das Buch ist ferner von hoher Relevanz für die Kultur- und Religionsgeschichte des frühklassischen Indien u.a. wegen der Behandlung von Epidemien und Umweltthematiken sowie der menschlichen Lebensspanne (āyus) in einem kosmologisch-mythologischen Kontext und in Verbindung mit Schicksal und menschlichem Handeln (karman). Ausserdem ist das Vimānasthāna von grosser Bedeutung für die frühe Geschichte der indischen Philosophie: im Rahmen der umfangreichen Darstellung der medizinischen Diagnostik in den Kapiteln vier und acht wird die Epistemologie der indischen Medizin, die mit derjenigen der frühklassischen Philosophie eng zusammenhängt, in ihrem besonderen Kontext präsentiert, während die detaillierte Behandlung der wissenschaftlichen Debatte im achten Kapitel - im Kontext der medizinischen Didaktik und des beruflichen Wettbewerbs - einen Einblick in frühklassische indische Dialektik und die Anfänge der indischen Logik sowie wissenschaftssoziologische Aspekte gibt. Trotz der großen Relevanz der Carakasaṃhitā insgesamt wurde der Text bisher noch nicht kritisch ediert, obwohl sein überlieferter Zustand problematisch ist. In Folge eines Vorprojekts, in dem ein großer Teil von Vimanasthana Kapitel 8 zum ersten Mal auf der Grundlage von 44 Manuskripten kritisch herausgegeben und ein erheblich verbesserter Text erstellt wurde, strebt das Projekt die kritische Ausgabe des gesamten Vimānasthāna an. Neben den verfügbaren Manuskripten, die vier großen Überlieferungsgruppen zugeteilt werden konnten, werden die Kommentare sowie das Zeugnis anderer klassischer Werke des Āyurveda berücksichtigt werden. Der älteste vollständig erhaltene Kommentar, Cakrapāṇidatta's Āyurvedadīpikā (11. Jh.), wird bei der Textkonstituierung eine besondere Rolle spielen; es wird deshalb eine Arbeitsausgabe des Kommentars zum dritten Buch erstellt werden, um einen verlässlichen Zugang zu diesem wichtigen Zeugen zu gewinnen. Der resultierende kritische Text wird gut dokumentiert und gemäss modernster Textkritik wohl durchdacht sein, wobei innovative Methoden zum Einsatz kommen werden, wie eine computergestützte kladistische Analyse - aus der Evolutionsbiologie übernommen und adaptiert - mit dem Ziel der Bestätigung und Verfeinerung der stemmatischen Hypothese zu einer komplexen kontaminierten Überlieferung; der Text wird erstmals eine zuverlässige Quelle für Studien zu Einzelthemen des Vimānasthāna darstellen und als Modell für kritische Ausgaben vergleichbarer Texte dienen. Eine umfangreich philologisch und historisch annotierte Übersetzung des achten Kapitels sowie annotierte Übersetzungen der anderen Kapitel auf Grundlage des kritischen Textes werden Indologen, Wissenschafts- und Philosophiehistorikern sowie Religions- und Kulturwissenschaftlern einen authentischen und historisch kontextualisierten Einblick in die einmalige Verbindung von Medizin, Dialektik, Philosophie und Religion im Vimānasthāna der Carakasaṃhitā gewähren.