"Leerheit von Anderem" (Gzhan stong) in den tibetischen Mahāmūdra-Traditionen

01.05.2012 - 30.04.2015

Leitung: Klaus-Dieter Mathes

FWF, P23826

Mitarbeiter:

  • Martina Draszczyk
  • David Higgins

Die Yoga- und Meditationstechniken der mahāmudrā, die seit einiger Zeit weltweit auf großes Interesse stoßen, nahmen in der intellektuellen Geschichte Tibets, vor allem in den Bka' brgyud-Schulen eine wesentliche Rolle ein. Die Methoden, mit direkter gültiger Erkenntnis einen unmittelbaren Zugang zur lichthaften Natur des Geistes zu gewinnen, schufen die Grundlage für philosophische Systeme, die das Absolute positiv beschreiben. Hintergrund dafür boten die Lehren der dritten Raddrehung des dharma (dharmacakra), das nicht nur auf den Lehren über Leerheit beruht, sondern auch zwischen dem Zugeschriebenen und dem Wirklichen (d. h. Gegebenheiten und ihrer wahren Natur bzw. den akzidentellen Verunreinigungen und der Buddha-Natur) unterscheidet. Manche haben dieses dritte dharmacakra als eine Lehre der definitiven Bedeutung verstanden und sogar die Notwendigkeit, betont, die Unterscheidung zwischen Zugeschriebenem und Wirklichem in Bezug auf die zwei Arten von Leerheit, die "Leerheit von einem Selbst" (rang stong) und die "Leerheit von Anderem" (gzhan stong) zu definieren. Diese auf mahāmudrā beruhende gzhan stong-Philosophie wurde vom 15. und 16. Jh. an systematisch präsentiert, in einer Zeit, in der die Bka' brgyud pas über wirtschaftliche und politische Macht verfügten (in Zentraltibet stellten sie sogar die Herrscher) und somit frei waren, ihre mahāmudrā-Philosophie zu formulieren sowie gegen die früheren Kritiken von Sa skya Pandita (1182-1251) und seinen Schülern, die während der Yuan-Dynastie (1271-1368) die Macht in Tibet innehatten, zu verteidigen. Im 17. Jh. wurden die Bka' brgyud pas von der Regierung des 5. Dalai Lama (1617-1682) verfolgt. Die mahāmudrā-Tradition überlebte jedoch und hat sich mittlerweile weltweit ausgebreitet, dies allerdings mit einem geringen Maß an Belegen für ihren reichen scholastischen und intellektuellen Hintergrund. Der aktuelle Forschungsstand belegt, dass es eine auf mahāmudrā-beruhende gzhan stong-Philosophie gibt, die auf Maitripa und andere indische Meister zurückgeht (wenn auch nicht als gzhan stong bezeichnet). Es ist daher von großer Wichtigkeit und Interesse, die Entwicklung dieses Zugangs im 15. und 16. Jh. systematisch zu untersuchen, jene Zeit, als ihre wichtigsten Vertreter frei waren, ihre Standpunkte zu vertreten. Die beantragte Analyse beruht auf einer sorgfältigen Auswahl von Passagen von Gser mdog pan chen Shakya mchog ldan (1428-1507), Karma Phrin las pa (1456-1539) und Kun mkhyen Padma dkar po (1527-1596). Zitate aus kanonischen Werken werden identifiziert, kritisch ediert und (soweit vorhanden) mit dem indischen Original verglichen. Erst mit diesen grundlegenden Daten wird es möglich, festzustellen, ob im genannten Zeitrahmen die Bka' brgyud pas eine gzhan stong-Sichtweise vertraten, die auf der direkten mahāmudrā-Erfahrung der Wirklichkeit beruhte. Das Projekt wird in Kooperation mit den tibetischen Gelehrten Mkhan po Blo bzang (Namo Buddha, Nepal) und Acarya Tshul khrims rgya mtsho (Delhi, Indien) durchgeführt.