Mitarbeiter:
- Bruno Lainé
- Konchok Tamphel (Okt.-Dez. 2018)
- Markus Viehbeck
Der tibetische buddhistische Kanon wie wir ihn heute kennen besteht aus den zwei Abteilungen Kanjur ("[Buddhas] Wort in Übersetzung") und Tanjur ("exegetische Abhandlungen in Übersetzung") und entwickelte sich über einen Zeitraum von mehr als fünf Jahrhunderten. Im 9. Jh. wurde damit begonnen, buddhistische heilige Schriften vorwiegend indischen Ursprungs systematisch ins Tibetische zu übersetzen, und im frühen 14. Jh. erschienen erstmals die literarischen Korpora "Kanjur" und "Tanjur" in ihrer gegenwärtigen Form. Die Bedeutung dieser Sammlungen übersteigt bei weitem die von bloßen literarischen Oeuvres im Sinne von Texten, die man liest und studiert. Insbesondere Kanjurs sind auch Objekte ritueller Verehrung. Ein Kanjur repräsentiert den Buddha in seinem Aspekt der Rede und sollte daher in jedem Tempel vorhanden sein. Daher wurde im Laufe der Jahrhunderte eine beträchtliche Anzahl solcher Textsammlungen von politischen und religiösen Führern, aber auch von wohlhabenden Laien in Auftrag gegeben. Viele von ihnen wurden zerstört, entweder durch den Zahn der Zeit oder durch die Kulturrevolution in den 1960er und 1970er Jahren. Trotzdem sind heute ungefähr 40 verschiedene Kanjureditionen bekannt. Ein Großteil von ihnen gehört zu den beiden Hauptlinien der Überlieferung, die auf Manuskript-Kanjurs zurückgehen, die im 14. und 15. Jh. in Zentraltibet kompiliert wurden (Tshal pa und Them spangs ma). Alle anderen Kanjurs, die sich keiner dieser beiden Gruppen zuordnen lassen, werden gemeinhin unter "lokale" oder "unabhängige" Kanjurs zusammengefasst. Diese werden für die Forschung in zunehmendem Maße bedeutsam, da sie alternative Texttraditionen repräsentieren, andere, teilweise ältere Versionen und Übersetzungen bewahren als die Kanjurs der Hauptentwicklungslinien, und auch Texte überliefern, die in jenen nicht enthalten sind, und damit den Blick auf ein reicheres religiöses und literarisches Erbe eröffnen. Einige lokale Kanjurs wurden in den letzten Jahren in Ladakh (17. Jh.), Nepal (Dolpo und Mustang, 14. Jh.) und Bhutan (14.-20. Jh.) entdeckt, und erste Untersuchungen davon zeigen, dass einige dieser Sammlungen nicht im strikten Sinne "lokal" geblieben sind, sondern einen größeren Einfluss auf die kanonische Überlieferung ausgeübt haben als allgemein angenommen.
Das gegenständliche Projekt hat zum Ziel, bisher unbekannte Linien von Textüberlieferung zwischen Mustang und Dol po (Nepal) und Ladakh sowie mögliche zentraltibetische Quellen dieses Materials aufzuspüren und dessen Stellung in der Entwicklung der tibetischen kanonischen Literatur im allgemeinen zu untersuchen, einschließlich der Verschränkung unterschiedlicher Traditionen, die sich im Laufe der Überlieferung ergibt.
Zu diesem Zweck soll die Dokumentation bereits bekannter und noch zu erforschender Sammlungen abgeschlossen werden und das Material katalogisiert, archiviert und in digitaler Form der internationalen Forschung zugänglich gemacht. Vergleichende Struktur- und Textanalyse aller Kanjurs sowie älteren Textmaterials (11.-14. Jh.), das vor kurzem im westlichen Himalaya entdeckt wurde, soll neue Erkenntnisse über die Entwicklung des tibetischen buddhistischen Kanons vermitteln.