Tibetische Juwelenpillen (rin chen ril bu) stellen das höchste Gut in der tibetischen Pharmakologie dar. Sie haben einen außerordentlichen medizinischen, sozialen, politischen, wirtschaftlichen und religiösen Einfluss in der tibetischen Gesellschaft und darüber hinaus. Sie werden verschrieben, gehandelt, verschenkt, getragen und inzwischen weltweit konsumiert. Sie gelten als die stärksten Heilmittel gegen schwerste Erkrankungen, finden aber auch Anwendung als verjüngende Tonika, in der Ersten Hilfe und als Schutzamulette (z.B. wahrend der SARS-Epidemie). Wegen ihres Blei- und Quecksilbersulfidgehaltes sind sie auch umstritten - vielen Patienten ist jedoch nicht bewusst, dass die Pillen verarbeitete Schwermetalle enthalten. Aufgrund ihrer wertvollen Inhaltsstoffe - wie z.B. Gold, Silber, Saphire, Türkise und Perlen - sind Juwelenpillen teurer als andere tibetische Pillen. Als (un)kontrollierte "Nahrungsergänzungsmittel" haben sie Nischen in der Komplementärmedizin auf globalen Märkten gefunden. Allerdings werden ihre Inhaltstoffe und Rezepturen oft geheim gehalten, nur wenig ist über ihre Herkunft bekannt.
Was geschieht, wenn solche Vielstoff-Präparate aus einer medizinethnologischen theoretischen Perspektive untersucht werden, die auf Ansätzen über Objektbiographien basiert (Appadurai 1986, Kopytoff 1986)? Und was geschieht, wenn dieser Biographie-Ansatz erweitert und die Textgeschichten dieser Heilmittel als Teil der heutigen gelebten Praxis verstanden wird - wenn beispielsweise aus dem 12. Jahrhundert stammende Rezepte noch heute verwendet werden?
Dieses Projekt geht über Kopytoffs Ansatz zu Objektbiographien, der sich hauptsächlich auf kommodifizierte materielle Objekte bezieht, hinaus. Es kombiniert Übersetzungen und Textanalyse mit Ethnographie, um die Biographien von drei der acht Kostbarpillen, die die tibetische Pharmaindustrie heute in Indien produziert, zu skizzieren. Dafür werden historische Rezepte aus dem Tibetischen übersetzt und analysiert, ihrer soziale, politische, religiöse und wirtschaftliche Bedeutung untersucht und ihr modemer therapeutischer Einsatz ethnographisch erforscht. Dieses interdisziplinäre Projekt von Tibetologie und Medizinethnologie wird am Institut fur Südasien, Tibet- und Buddhismuskunde an der Universitat Wien angebunden werden.
Rezepte in Medizintexten werden als literarische Form verstanden, die den Austausch von medizinischem Wissen vermitteln (Nappi 2009). Übersetzungen von Rezepten und deren Analyse werden Aufschluss darüber geben, welche therapeutische, religiöse und politische Bedeutung tibetische Medizinautoren den Juwelenpillen in verschiedenen historischen Epochen gaben. Feldforschungen werden in Indien durchgeführt, wo langfristige Forschungskontakte bereits vorhanden sind. Interviews mit Pharmakologen und Ärzten werden im Mittelpunkt stehen, um herauszufinden, welche der historischen Rezeptwerke in verschiedenen Heilmitteln noch verwendet und wie diese Rezepte heute interpretiert und substituiert werden. Diese Studie ist von aktueller Bedeutung, da sie eine beträchtliche Datenmenge und neue Analysen für die Debatte über Toxizitat in den asiatischen Medizintraditionen liefem wird.
Die Verbreitung der Ergebnisse durch Open-Access und Peer-Review Publikationen sowie eine eigene Projekt-Webseite wird Ärzten, Patienten, Entscheidungsträgern und anderen Akteuren ermöglichen, fundiertere Entscheidungen über die Verwendung von Juwelenpillen zu treffen.