Der Körper eines verstorbenen Menschen sollte nach den Anweisungen des hinduistischen Totenrituals möglichst am Todestag verbrannt werden. Nach der Verbrennung ist der Verstorbene körperlich nicht mehr verfügbar und als hilfloser Geist in einem gefährdeten Zustand. Der Haupttrauernde schafft ihm daher auf rituelle Weise verschiedene Orte und Körper, in denen er präsent gemacht und über verschiedene Stadien in den stabileren Zustand eines Vorvaters transformiert wird. Der Verstorbene ist auf diese Weise nicht einfach ein Toter, sondern muß rituell erst zu einem „richtigen“ Toten und schließlich Vorvater gemacht werden.
Gleichzeitig befindet sich der Tote nach Angaben von mythologischen Texten wie dem Pretakalpa des Garuḍapurāṇa auf einer einjährigen schreckenerregenden und gefährlichen Jenseitsreise in das Reich des Totengottes Yama. Daraus entsteht eine scheinbar widersprüchliche Situation: Der Tote wird einerseits im Diesseits rituell immer wieder präsent gemacht, andererseits wird er gedanklich weit weg auf seiner Jenseitsreise vermutet.
Das Verhältnis von Ritual und Mythos ist häufig als reziprok bestimmt worden: Entweder gilt der Mythos als Textgrundlage und das Ritual als seine Aufführung oder aber der Mythos erzählt die Geschichte zum Ritual. Auch wenn die Ansätze der myth-and-ritual school als überholt gelten und heute meist von einer Unabhängigkeit von Ritual und Mythos ausgegangen wird, zeigt sich in der Analyse und Interpretation insbesondere von hinduistischen Totenritualen immer wieder, daß sie in genannter Weise aufeinander bezogen werden, indem die Totenrituale in weiten Teilen als Begleitung des Toten auf der Jenseitsreise aufgefaßt werden.
In dem Vortrag wird das Verhältnis von ritueller und mythischer Behandlung des Toten am Beispiel der Verkörperlichung und Transformation des Toten ausgeführt und im weiteren anhand dieses Beispieles Ansätze zu einer methodologischen Neubestimmung des Verhältnisses von Ritual und Mythos vorgestellt.