Transgressive śivaitische Praktiken in frühen Darstellungen der Sanskrit- und Prakrit-Dichtung. Eine literarisch-kognitivistische Studie.

31.08.2020

Christian Ferstl

  • Betreuung: Karin Preisendanz

Die vorliegende Studie ist einzelnen Beispielen literarischer Figuren gewidmet, deren Ausgestaltung Merkmale śivaitischer, meist asketischer Praktiken enthalten. Sie Figuren stammen aus sechs ausgewählten Werken der indischen Kunstdichtung in Sanskrit und Prakrit. Die Werke von jeweils verschiedenen Autoren stammen aus der Zeit des ersten bis zehnten Jahrhunderts und sind formal je verschiedenen Genres zuzurechnen. Gemeinsam ist ihnen die literarisch verarbeitete Außenansicht auf Vertreter und Vertreterinnen esoterischer Traditionen des Śivaismus. Diese werden mithilfe religiös-normativer Literaturwerke identifiziert und ins Licht der jeweiligen traditionseigenen Innenansichten, die sich daraus erschließen, gerückt. Zugleich werden auch die zahlreichen literarischen Stilmittel berücksichtigt, die in den Dar-stellungen erkennbar sind.

Neben einer grundsätzlichen ästhetischen Wertschätzung der historischen Literaturwerke ist die Studie im Wesentlichen von zwei Fragen geleitet: Worin liegt die Kunstfertigkeit der ausgewählten Dichtungen, das heißt der Werke im Ganzen und der daraus herausgegriffenen Passagen im Speziellen, und ist sie im Zusammenhang mit der Thematik der Studie von Bedeutung? Und: Können literarische Werke, deren Inhalt weitgehend fiktiv ist, überhaupt Wissen vermitteln, und wenn ja, welche Art von Wissen? Im Versuch, diese Fragen zu beantworten, werden die dichterischen Darstellungen in ihrem jeweiligen literarischen, historischen und kulturellen Kontext unter die philologische Lupe genommen. Für dieses sogenannte close reading wurden unter anderem inhaltlich oder genrespezifisch relevante Paralleltexte in Sanskrit und Prakrit, historische Kommentarwerke in Sanskrit und rezente Sekundärliteratur in Hindi und europäischen Sprachen berücksichtigt. Übersetzungen aus den Literaturwerken werden stets die Passagen aus den Quellentexten beigefügt, und im Falle literarisch-dichterischer Werke wurde stets versucht, das Original inhaltlich wie formal so getreu als möglich nachzubilden.

Auf diese Weise sollen Erkenntnisse in drei Bereichen gewonnen werden: in Bezug auf (1) die dargestellten, gegenständlichen Inhalte wie religiöse Traditionen, soziale Umgangsformen und andere kulturgeschichtliche Details; (2) die Texte selbst, das heißt zum einen deren sprachliche, und formale Ausgestaltung, bisweilen auch deren Überlieferungsgeschichte; und (3) die literarischen Verfahren und die Art und Weise, durch die dichterische, weitgehend fiktionale Kompositionen überhaupt zur Wissensvermittlung beitragen. Der letztgenannte Punkt gründet auf Elementen der seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelten Theorie des literarischen Kognitivismus.

Insgesamt bietet die Studie somit eine Untersuchung kultur- und geistesgeschichtlicher Phänomene vermittels historischer fiktionaler Literatur und zugleich neue Interpretationen von Passagen fiktionaler Dichtungen auf der Grundlage historischer Forschung mit besonderem Augenmerk auf den Erkenntniswert der literarischen Fiktionen.

Für dieses Dissertationsprojekt wurde Christian Ferstl ein uni:docs Stipendium verliehen.