Nārāyaṇārya's Vidhisvarūpanirṇayaḥ. Das achte Kapitel in der Nītimālā — ein Beitrag zur personalen Konzeption der Vorschrift im Viśiṣṭādvaitavedānta

15.06.1999

Himal Trikha

  • Betreuung: Gerhard Oberhammer

Nārāyaṇāryas Wirken (um 1200) fällt in die klassische Zeit des Viśiṣṭādvaitavedānta, also in die Zeit zwischen Rāmānuja (12. Jh.) und Veṅkaṭanātha (14. Jh.). Von Nārāyaṇārya — dem auch ein "Mīmāṃsāsūtrasaṃkṣepa" zugeschrieben wird und der, falls er mit einem Anhänger Yādavaprakāśas gleichen Namens identisch sein sollte, auch als Autor eines Gītābhāṣya und eines Tattvanirṇaya in Betracht kommen könnte — ist nur die 1940 edierte Nītimālā erhalten. Dieses dem Typus der prakaraṇa-Literatur zugehörige Werk zielt im Rückgriff auf Argumente aus Rāmānuja's Śrībhāṣyam darauf ab, der Schultradition verpflichtete Konzepte gegenüber schulfremden Bestimmungen begrifflich zu entfalten und zu präzisieren. Der "Kranz von Argumenten" (nītimālā) enthält — neben Ausführungen wie etwa zu der Autorität der Upaniṣaden oder zu der Natur des brahman — als 8. Kapitel, eingebettet in die Untersuchungen der Natur der Seele (puruṣasvarūpa) und der Natur der Bewerkstelligung des höchsten Gutes (niḥśreyasasādhanasvarūpa), den Vidhisvarūpanirṇayaḥ, eine Untersuchung der Natur der Vorschrift.

Mit der in diesem Abschnitt entwickelten Bestimmung der Vorschrift wird der Versuch gemacht, unterschiedliche Intentionen in der Auslegung der vedischen Überlieferung aufeinander abzustimmen. Nārāyaṇārya vertritt hier — gegenüber den Bestimmungen von Vorschrift als einer der Wortform eignenden Verwirklichung (śabdabhāvanā) oder als einer auszuführenden (kārya) Notwendigkeit — zunächst die Auffassung, daß der Begriff Vorschrift (vidhi), den er als Sammelbegriff für die normative Äußerungen bezeichnenden Begriffe verwendet, ausschließlich als die Anweisung von einer Person durch eine andere Person (puruṣaniyoga) bestimmt werden kann. Diese Position wird mit den Theorien über den Spracherwerb des Kindes und über das Verstehen (vyutpatti) einer sprachlichen Veranlassung im profanen Kontext gerechtfertigt.

Nārāyaṇārya versteht es sodann, diese Definition der Vorschrift auch auf die vedischen Aussagen (vaidikavākya), also auf heilsrelevante sprachliche Veranlassungen (hitapravartanā) anzuwenden und damit einen personalen Urheber für den Veda nachzuweisen. Dabei werden zwei heterogene Erklärungsmodelle für die Fehlerlosigkeit des Veda thematisch: Im ersten Modell, welches das von der Pūrvamīmāṃsā entwickelte Prinzip der Urheberlosigkeit (apauruṣeyatva) berücksichtigt, kann der Veda als die sprachliche Explikation von einer nicht sprachlich zum Ausdruck gebrachten Verordnung (ājñāpana) des Īśvara verstanden werden. Das zweite Erklärungsmodell, das auf das Prinzip der vertrauenswürdigen Mitteilung (āptoktatva) zurückgreift, versteht den Veda als einen vom Īśvara sprachlich zum Ausdruck gebrachten Befehl (ājñā).

In der Besprechung des Zustandekommens der Resultate der im Veda angewiesenen Werke zeigt sich für Nārāyaṇārya ein in jeder heilsrelevanten Vorschrift mitangewiesener Gehalt: Da letztlich nur das höchste Wesen (paramapuruṣa) für die Gewährung der Resultate in Frage kommt, beinhaltet jede Vorschrift auch die Aufforderung, das höchste Wesen geneigt zu machen. In jenen Vorschriften, die das Geneigtmachen (ārādhana) einer bestimmten Gottheit (devatā) beinhalten, wird das höchste Wesen über die Zufriedenstellung eines untergeordneten Bestandteiles (aṅga) seiner selbst geneigt gemacht. Die Hervorhebung des Umstandes, daß die Vermittlung bestimmter Resultate auch vom Wohlwollen einzelner Gottheiten abhängig ist, weist Nārāyaṇārya als einen Fürsprecher des vedischen Dharma aus, dessen Heilswirksamkeit er aber im Sinne seiner monotheistischen Tradition nur dadurch gewährleistet sieht, daß ein personal verstandenes höchstes Wesen durch die Ausführung seines Willens geneigt gemacht wird.

Nārāyaṇārya formalisiert seine Überlegungen in dem folgenden Siddhānta: "So ist demnach die Vorschrift stets die Anweisung durch eine Person: In der Welt ist die Vorschrift die Anweisung durch einen anweisenden Menschen, im Veda aber die Anweisung durch das höchste Wesen." (Nītimālā 61,12-13: tad evaṃ loke prayoktṛpuruṣaniyogo vidhiḥ, vede tu paramapuruṣaniyoga iti sarvatra puruśaniyogo vidhiḥ)

Die wichtigsten identifizierten Quellen des Vidhisvarūpanirṇaya sind: ein Auszug aus Pārthasārathimiśra Nyāyaratnamālā, in dem die Vorschrift als śabdabhāvanā bestimmt wird und den Nārāyaṇārya für den ersten Pūrvapakṣa wortwörtlich übernommen hat; Passagen aus Śālikanāthas Prakaraṇapañcikā, die in der Widerlegung des ersten Pūrvapakṣa eingesetzt werden; der Laghusiddhānta von Rāmānujas Śrībhāṣya (ŚrīBh) zu Brahmasūtra I 1,1, aus dem Nārāyaṇārya seine Theorie über das Verstehen einer sprachlichen Veranlassung ableitet; ŚrīBh II 2,3, wo die Relation von Veda und Īśvara besprochen wird, und ŚrīBh II 2,37-40, das vom Zustandekommen des Resultates eines im Veda angewiesenen Werkes handelt.

Von den Einflüssen, die nicht durch wortwörtliche Bezugnahmen nachgewiesen werden konnten, die aber in einem engen thematischen Zusammenhang stehen, sind zu nennen: Überlegungen der Prabhākaramīmāṃsā, die über die Bestimmung der Vorschrift als kārya im zweiten Pūrvapakṣa thematisch werden; Kommentarliteratur zu Mīmāṃsāsūtra VIII 1,34 und IX 1,8, von der anzunehmen ist, daß sie Nārāyaṇārya als Gegenposition zu seiner Überzeugung vom Īśvara als dem Gewährer der Resultate bekannt gewesen ist; und Positionen aus Yāmunas Āgamaprāmāṇya sowie die Gedanken eines der Schule zugehörigen Lehrers (Parāśarabhaṭṭa?), welche in den alternativen Bestimmungen der Relation von Veda und Īśvara faßbar sind.

Die vorliegende Arbeit bietet eine annotierte Übersetzung des Vidhisvarūpanirṇaya. Die Einleitung betrachtet den Text und seine Thematik unter verschiedenen Perspektiven, etwa unter dem Gesichtspunkt der Auseinandersetzung mit der Pūrvamīmāṃsā um einen angemessenen Begriff der Vorschrift oder unter dem Aspekt der Eindeutigkeit der Stellungnahme, die Nārāyaṇāryas mit seiner Bestimmung der Vorschrift als Anweisung durch eine Person in der Diskussion um die Relation von Veda und Īśvara bezogen hat. Indices erschließen das behandelte Material.