Metaphysik und Epistemologie des Nyāya I

01.08.2004 - 30.09.2006

Leitung: Karin Preisendanz

FWF, P17244-G03

Mitarbeiter:

  • Yasutaka Muroya
  • Sung Yong Kang

Der Nyāya ("Logik"), bis in die Neuzeit hinein eine der wichtigsten Traditionen der klassischen indischen Philosophie, kristallisierte sich als eine systematische philosophische Tradition, mit starker Betonung von Metaphysik und Epistemologie, während der Zeit der Gupta-Herrscher in Südasien (4.-6. Jahrhundert) heraus. Das Grundwerk des Nyāya, das Nyāyasūtra, wurde höchstwahrscheinlich gegen Mitte des 5. Jahrhunderts von anonymen Bearbeitern finalisiert und kurz danach von dem Philosophen Vātsyāyana Pakṣilasvāmin in seiner Gänze kommentiert. Dieser frühe Kommentar, der lediglich als Nyāyabhāṣya ("Kommentar zum Nyāya") bekannt ist, ist von wesentlicher Bedeutung nicht nur für unser Verständnis der frühen Phase der Nyāya-Philosophie, sondern auch für unsere Kenntnis der anderen philosophischen Traditionen, die sich während der Gupta-Zeit und der unmittelbar vorangehenden Kushana-Zeit bildeten, da nur ein Bruchteil der reichen literarischen und wissenschaftlichen Produktion dieser Periode über die Jahrhunderte erhalten blieb. Das Nyāyabhāṣya ist ferner der Hauptzeuge für die früheste Form des Nyāyasūtra, im Sinne seines Bestands und des Wortlautes und Umfangs der Aphorismen.

Die große Wichtigkeit des Werkes, zusammen mit dem häufig unbefriedigenden Status des überlieferten Sanskrit-Textes, der in den gedruckten Ausgaben gegeben wird, verlangte eine neue, kritische Ausgabe des Nyāyabhāṣya. Das Projekt schuf die Grundlagen hierfür. Kopien von etwa fünfzig Manuskripten des Nyāyabhāṣya in mehreren indischen Schriften wurden vor allem aus Südasien beschafft, darunter auch von solchen, die in bislang unerforschten südasiatischen Sammlungen entdeckt wurden. Ein einmaliges Archiv, das auch Kopien von Manuskripten anderer relevanter Nyāya-Werke enthält, wurde aufgebaut, welches auch einen Beitrag zur Dokumentation des vom Verfall bedrohten kulturellen Schatzes der südasiatischen philosophischen Sanskrit-Manuskripte leistet. Nach ausführlicher Beschreibung wurden die Manuskripte zum ersten Kapitel des Textes kollationiert. Die textkritische Analyse der zahlreichen Lesarten resultierte in völlig neuen Erkenntnissen zur Überlieferung des Nyāyabhāṣya. Es konnte gezeigt werden, dass zwei Manuskripte aus dem Westen und Süden Indiens (Jaisalmer in Rajasthan und Trivandrum in Kerala) einen Text bewahren, der dem ursprünglichen Wortlaut bedeutend näher ist als derjenige, der sich in der großen Mehrheit der Manuskripte und den gedruckten Ausgaben findet. Dieser wichtige Befund konnte durch textkritische Berücksichtigung der späteren Kommentare zum Nyāyabhāṣya sowie des sekundären Zeugnisses anderer, später verfasster philosophischer Werke gestützt werden. Es konnte ferner gezeigt werden, dass im Jaisalmer- und im Trivandrum-Manuskript eine frühere Form der Aphorismen des Nyāyasūtra erhalten ist. Die ersten Schritte in der Erstellung der kritischen Ausgabe, die im Projekt unternommen wurden, zeigen, dass ein ursprünglicherer, wohl begründeter Text des Nyāyabhāṣya in der Tat etabliert werden kann. Dies wird im Folgeprojekt für etwa die Hälfte des Werkes geschehen, begleitet von Studien zu metaphysischen und epistemologischen Themen auf der Grundlage des revidierten Textes.